Die Theologin Sarah Vecera ist Bildungsbeauftragte zum Thema «Rassismus und Kirche» der Vereinten Evangelischen Mission Deutschland. Foto: Lara Diederich

«Wir müssen lernen, dass wir alle rassistisch geprägt sind»

Auch in den Kirchen gibt es Rassismus

Weisse Menschen in Kirchenkreisen halten sich meist nicht für rassistisch. Doch Rassismus ist überall. Dies erläutert die deutsche Rassismusforscherin Sarah Vecera* in ihrem Buch «Wie ist Jesus weiss geworden?» und in ihrem Podcast «Stachel und Herz».

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: «Rassismus ist überall», schreiben Sie in ihrem Buch. Wie kann das sein?

Sarah Vecera: Rassismus ist ein 500 Jahre altes Unterdrückungssystem. Das sitzt in unseren Köpfen, unseren Emotionen, in unserer Geschichte. Es fängt 1492 bei Kolumbus an, der Amerika entdeckte, obschon dort bereits Menschen lebten. Es folgen der transatlantische Sklavenhandel und die Kolonialzeit, als Europäer:innen sich Länder in anderen Kontinenten aneigneten. Sie behandelten die Menschen, die dort lebten, wie Kinder, denen die erwachsenen Europäer:innen etwas beibringen mussten.

Ist dieses Denken denn bis heute sichtbar? Auch in den Kirchen?

Ja. Doch in den Kirchen sagen wir nicht: «Diese Menschen können das nicht», sondern: «Wir helfen denen aus gnädiger Nächstenliebe.» Auch das ist eine Hierarchisierung. Wir in Europa wissen, wie die Welt funktioniert. Wir haben die beste Wissenschaft, die beste Technologie, die beste Wirtschaft. Dabei hätte Europa diesen Wirtschaftsboom im 17.  Jahrhundert nie erreichen können ohne den Sklav:innenhandel.

Aber vor Gott sind doch alle Menschen gleich. Wie kann es da in christlichen Kirchen Rassismus geben?

Die Denkweise «Wir und die anderen» ist tief in der Kirche verankert. In Deutschland leben 43 Prozent der Kinder und 26 Prozent der Erwachsenen mit Migrationshintergrund. Die finde ich unter den Erzieher:innen in kirchlichen Kitas oder den Angestellten in der Diakonie und der Evangelischen Kirche nicht.

In der evangelischen Kirche Deutschlands bilden wir Schwarze Menschen auf Spendenplakaten ab, wir beten für sie, wir helfen ihnen in unseren diakonischen Einrichtungen, aber als Akteur:innen kommen sie nicht vor. In der katholischen Kirche ist das ein wenig anders. Es ist wichtig, dass wir uns mit den Mustern, die hinter diesem Denken liegen, beschäftigen. Das meine ich mit «strukturellem Rassismus».

Wie haben Sie das selber in der Kirche erlebt?

Ich bin in Oberhausen geboren und aufgewachsen. Ich wurde als Kind in der Kirche gefragt: «Wo kommst du wirklich her?» Ich weiss, dass diese Frage nicht böse gemeint ist, aber es macht etwas mit einem Kind, wenn es merkt: Warum wird diese Frage mir gestellt und anderen nicht? Es gab auch tolle Situationen: Ich durfte in Krippenspielen immer Maria sein, weil die Leute ahnten, dass Maria nicht blond war, sondern wohl eher so aussah wie ich.

Würden Sie die Frage nach der Herkunft als rassistisch bezeichnen?

Nein, ich weiss, dass Menschen das wirklich aus Interesse fragen. Es gibt auch Menschen of Color, die gerne darauf antworten. Ich habe schon mit drei Jahren gelernt, dass die Menschen hören wollen: «Mein Vater kommt aus Pakistan und meine Mutter aus Deutschland.» Ein dreijähriges Kind möchte jedoch einfach nur dazugehören und merkt aufgrund dieser Frage: «So ganz gehöre ich hier nicht dazu.»


Viele haben Mühe damit, die Frage nach der Herkunft nicht zu stellen. In der Schweiz ist das eine der ersten Fragen, wenn jemand nicht den ortsüblichen Dialekt spricht.

Wenn ich einen fremden Dialekt spreche, komme ich tatsächlich aus einem anderen Ort. Das ist ein Unterscheid. Bei nicht weissen Menschen warte ich erst mal ab. Vielleicht kommen wir irgendwann an einen Punkt, wo wir über ihre Herkunft reden, aber es ist keine Einstiegsfrage. Es geht um den Zeitpunkt. Diese Frage wird mir manchmal gestellt, bevor die Leute mich nach meinem Namen fragen.

Warum wird Rassismus so heftig abgewehrt?

Wenn dieses Wort fällt, denken viele: «Das war Hitler, das waren die Nazis». Das weisen wir weit von uns, weil wir wissen, wie schlimm die Naziverbrechen waren. Es ist wichtig, Rassismus als strukturelles Phänomen zu betrachten, von dem niemand mehr oder weniger betroffen ist. Wenn wir lernen, dass wir alle rassistisch geprägt sind, hätten wir eine ganz andere Grundlage, um darüber zu reden. In der Kirche gibt es viele Menschen, die nicht rassistisch sein wollen. Das ist eine sehr gute Voraussetzung, um einander gegenseitig zuzuhören.

Infolge Priestermangels werden in der Schweiz Priester aus anderen Kontinenten eingestellt, etwa aus Nigeria oder Indien. Diese bringen bisweilen ein traditionelleres, stärker patriarchales Kirchenbild mit, als wir es in der Schweiz kennen. Wie kann man hier differenzieren, ohne rassistisch zu werden?

Ich finde es gefährlich, solche Fälle nur individuell zu betrachten. Voreilig patriarchale Unterdrückung im Herkunftsland dagegen zu halten, ist nicht ganz fair und so pauschal auch nicht haltbar. Wir können uns vielmehr fragen: Welche Rolle hat ein Schwarzer Mann heute in unserer Gesellschaft? Welchen Mikroaggressionen ist er bei uns ausgesetzt?

Der nigerianische Pfarrer kommt in Systeme, in denen er als Schwarze Person strukturell benachteiligt ist, sobald er die Kirche verlässt. Mir berichten Schwarze Menschen in Deutschland, dass sich niemand zu ihnen setzt, wenn sie in der Strassenbahn allein in einem Viererabteil sitzen. An der Kasse im Supermarkt, beim Arzt, im Rechtssystem, bei der Grenzkontrolle – vielerorts erfahren sie Benachteiligung. Das ist verletzend und beschämend.

Deswegen finde ich es wichtig, dass wir auch Empowerment-Seminare anbieten für Menschen mit solchen Erfahrungen. Einen Raum schaffen, in dem der Pfarrer auch das Gefühl vermittelt bekommt: «Hier kann ich ehrlich sprechen.» Da sehe ich einen Seelsorgeauftrag.

 

*Die Theologin Sarah Vecera ist Bildungsbeauftragte zum Thema «Rassismus und Kirche» der Vereinten Evangelischen Mission Deutschland. Sie ist Co-Host des Podcasts «Stachel und Herz» und Autorin des Buches «Wie ist Jesus weiss geworden?» (Patmos 2022/3).

Hinweis: Die Schreibweisen Schwarz (Grossbuchstabe) und weiss (kursiv) sind in der Rassismusforschung gängig. Sie machen deutlich, dass es nicht um tatsächliche «Farben» geht.

 

 

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