Thomas Boutellier ist OK-Mitglied bei der Romreise der Deutschschweizer Arbeitsgruppe für Ministrant*innenpastoral (damp). Foto: Sylvia Stam

Thomas Boutellier: «Wir dürfen diesen Menschen keine Chance geben»

Wie Ministrant:innen auf ihrer Romreise vor Übergriffen geschützt werden

Wer in der Kirche mit Jugendlichen zu tun hat, steht seit der Publikation der Missbrauchsstudie besonders unter Beobachtung. Das ist gut so, sagt Thomas Boutellier. Er ist auf der Romreise der Schweizer Ministrant:innen Ende Juli  für deren Sicherheit zuständig.

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Nach der Publikation der Missbrauchsstudie könne eine Romfahrt mit Jugendlichen nicht mehr gleich wie bisher durchgeführt werden, schreiben Sie in einer Mitteilung. Was ist anders?

Thomas Boutellier*: Seit der Publikation der Missbrauchsstudie wird von Eltern und Medien anders auf uns geschaut. An unseren Präventionsstandards ist nichts neu. Aber neu müssen und wollen wir zeigen, wie wir die Kinder und Jugendlichen schützen. Wir weisen das Präventionskonzept auf der Website aus, wir haben es explizit allen Eltern zugeschickt und die Leitenden und Hilfsleitenden nochmals geschult.

Unter den Begleitpersonen können potenzielle Täter:innen sein. Was löst diese Vorstellung in Ihnen aus?

Das ist eine Realität. Wir müssen mit dieser Realität umgehen. Wir arbeiten daran, dass keine Situationen entstehen, in denen Missbrauch möglich ist. Wir dürfen diesen Menschen keine Chance geben.

Wie gewährleisten Sie, dass es auf der Reise nicht zu sexuellen Übergriffen kommt?

In der Jugendarbeit gibt es Situationen, die potentiell für Übergriffe genutzt werden können. Wenn ein:e Jugendliche:r möchte, dass die Türe geschlossen wird, dann erwarte ich, dass die Leitungsperson sagt, dass sie das zu ihrem eigenen Schutz nicht möchte. Wenn es wichtig ist, dass ein Gespräch unter vier Augen stattfindet, kann die Leitungsperson eine Drittperson darüber informieren. Dadurch ist auch die Leitungsperson sicherer. Andernfalls kann es vorkommen, dass sie verdächtigt wird, ohne etwas getan zu haben.

Was lernen die Leitenden sonst noch in Ihren Schulungen?

Mit den Hilfsleitenden haben wir sehr ausführlich über Macht gesprochen: Was ist meine Position? Was ist meine Rolle und wo habe ich Macht? Wie kann ich Macht einsetzen? Was heisst belohnen und bestrafen? Wo schaffe ich mit meiner Macht Abhängigkeiten? Jemand wird dann übergriffig, wenn er oder sie seine/ihre Macht nicht im Griff hat oder diese bewusst einsetzt. Übergriffe, egal ob sexueller oder anderer Natur, beginnen immer mit Machtmissbrauch.

Was muss passieren, damit jemand nach Hause geschickt wird? Nicht jeder Annäherungsversuch ist gleich ein sexueller Übergriff.

In Italien ist Rauchen und Alkohol erst ab 18 Jahren erlaubt. Wenn Leitende 16-Jährige dazu bringen, Alkohol zu trinken, geht er nach Hause. Ebenfalls, wenn jemand sich aktiv übergriffig verhält und in die Intimsphäre der Jugendlichen eingreift, indem er oder sie in den Zimmern herumhängt.

Nehmen wir an, Sie beobachten, wie ein 18-jähriger männlicher Hilfsleiter eine 14-jährige Ministrantin umarmt. Was tun Sie?

Ich muss ihn ansprechen, weil er sich und sie in eine Situation bringt, die rechtlich strafbar sein kann.  

Wenn beide sagen, sie seien ein Paar?

Auch dann macht er sich potentiell strafbar. Ich würde in diesem Fall mit den beiden reden. Wir informieren die Eltern über die Situation und die möglichen Konsequenzen. Wenn die Eltern sagen: «Wir wissen das, für uns ist das ok», dann darf das Pärchen bleiben, wenn sie ihr Paarsein auf der Reise nicht mehr «leben». Das Problem ist nicht, dass sie ein Paar sind, sondern dass er als Leiter eine Machtposition hat. Leitende und Teilnehmer:innen müssen sich dessen bewusst sein.

Was geschieht, wenn sich zwei Minis auf der Wallfahrt verlieben?

Das ist etwas Schönes und ok. Sie dürfen bloss nicht im gleichen Zimmer schlafen. Eine solche Reise ist ja auch ein Experimentierfeld, sie dient auch dazu, andere Leute kennen zu lernen.

Hat die Unsicherheit im Umgang mit Jugendlichen zugenommen?

Ich denke schon, und das ist nicht schlecht. Es sensibilisiert mich, mich damit auseinanderzusetzen. Begleitpersonen fragen heute: «Kann ich eine:n Teilnehmer:in umarmen, um ihn oder sie zu trösten?» Ich sage: «Ja, das kannst du, aber du musst vorher fragen, ob das für die betroffene Person ok ist.» Früher hat man das oft einfach gemacht. 

Auch wenn da ein Machtgefälle ist?

Es muss möglich sein, ein Kind zu umarmen, wenn ich es zum Beispiel trösten möchte. Aber dann frage ich vorher, ob es das möchte. Ich muss transparent machen, warum ich etwas tue. Und selbst wenn das Kind einverstanden ist, hätte ich gern, dass noch jemand dabei zuschaut, zu meinem Schutz. Solche Situationen müssen wir als Begleitpersonen herstellen, und das schulen wir.

Wie gewährleisten Sie, dass die Reise trotz aller Schutzmassnahmen unverkrampft über die Bühne gehen kann? Dass eine gewisse Spontaneität möglich bleibt?

Das hat viel damit zu tun, wie ich mich als Erwachsene:r in diesen Situationen verhalte. Ich muss die Teilnehmenden nicht permanent kontrollieren, sie am Gängelband halten. Das, was sie miteinander machen, ist das Zentrale, nicht das, was ich mit ihnen mache. Das hat sehr viel damit zu tun, wie sehr ich mich in meiner Rolle herausnehmen und sie gehen lassen kann. Wir sollten eher Begleiter:innen als Leiter:innen sein.

Nehmen wir eine tolle Begegnung mit dem Papst, auf die man sich riesig freut, und im Überschwang umarmt eine Leiterin den nächstbesten Ministranten. Das passiert doch einfach.

Das passiert und das muss auch möglich sein. Die Frage ist: Und jetzt? Danach müsste die Leiterin zum OK gehen und sagen: «Ich habe gegen eine Regel verstossen.» Dann wird jemand vom OK den Ministranten fragen, wie das für ihn war. Wenn es für den Ministranten ok war, lassen wir es gut sein. Es ist nicht ideal, aber wir sind Menschen und dürfen spontane Gefühle haben. Wenn es für ihn nicht ok war, muss sie dafür gerade stehen und die Konsequenzen tragen. Das kann je nach Art des Umarmens heissen, dass sie nach Hause geschickt wird.

Ist allen Leitenden wirklich bewusst, dass sie so etwas melden müssen?

Da ist noch Luft nach oben. Manche Theolog:innen und Jugendarbeiter:innen haben noch nicht begriffen, dass das, was sie tun, Konsequenzen haben kann und sie zu diesen Konsequenzen stehen müssen. Wir haben in der Jugendarbeit eine hohe Fehlertoleranz, denn die Jugendlichen müssen ein Risikobewusstsein entwickeln. Aber wenn ein:e Erwachsene:r Mist baut, muss er oder sie dafür geradestehen. Manchen fällt es schwer zu verstehen, dass Fehler passieren dürfen, aber dass sie angesprochen werden müssen.  

Sie sind nicht offiziell für die Damp tätig, übernehmen aber für diese Reise die Präventionsarbeit. Wie kommen Sie zu dieser Rolle?

Ich habe eine Ausbildung in Risiko- und Krisenmanagement und bin seit 15 Jahren im Krisenmanagement tätig, vor allem für die Pfadi. Ich bin privat mit der Präsidentin der Damp liiert, sie hat mich angefragt, ob ich diese Rolle für die Romreise übernehmen würde. Es freut mich, dass die «Damp» das Thema so explizit aufnimmt.
 

*Thomas Boutellier ist OK-Mitglied bei der Romreise der Deutschschweizer Arbeitsgruppe für Ministrant*innenpastoral (damp). Er ist zuständig für die Ressorts Sicherheit / Prävention und Öffentlichkeitsarbeit

 

Romwallfahrt der Ministrant:innen
Vom 27. Juli bis 3. August reisen über 400 Schweizer Minis ab 14 Jahren nach Rom. Begleitet werden sie von rund 70 Personen. Die Pfarreien stellen jeweils eine Gruppenleitung, darüber hinaus gibt es Hilfsleiter:innen. Dies sind in der Regel Jugendliche ab 18 Jahren, die selber Minis sind, oder Freiwillige. Das OK besteht aus sechs Personen. Insgesamt werden in Rom rund 70'00 Ministrant:innen aus aller Welt erwartet.

 

Aus den Präventionsstandards:
Für alle haupt- und nebenamtlichen Verantwortlichen (Angestellte der Pfarreien) gelten die Auflagen des Bistums, dem sie angehören. Dazu gehören z. B. Präventionskurse, Abgabe von Sonder- und Privatauszügen, Verhaltenskodex und Selbstverpflichtungen.
Ehrenamtliche Leitungspersonen, sofern sie im Auftrag einer Pfarrei eine Gruppe leiten, werden von der Pfarrei entsprechend geschult und haben zusätzlich die Möglichkeit, an den internen Schulungen der DAMP teilzunehmen.
Hilfsleitende besuchen vor der Miniwallfahrt die DAMP-interne Schulung oder weisen eine entsprechende Ausbildung aus ihrer beruflichen oder Jugendverbandstätigkeiten nach.
Mit der Teilnahme an der Wallfahrt verpflichten sich alle Verantwortlichen, das Schutzkonzept auch als Verhaltenskodex anzuerkennen.

 

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