Im Zentrum steht eine Frau, Emanuela, in deren Biografie die früheren Rollenbilder aufscheinen: vom Kind über die begehrenswerte junge Frau bis zur Greisin. Der Name Emanuela (hebräisch: Gott ist mit uns) klingt nach einer klandestinen Botschaft. Foto: Emanuel Ammon, Luzern

Welches ist meine Rolle?

Welttheater Einsiedeln: 100 Jahre kollektive Bühnenkunst

 

Das Einsiedler Welttheater feiert hundert Jahre seines Bestehens, und Lukas Bärfuss stellt in seinem raumlassenden Text die Frage nach dem guten, dem richtigen Leben.

Beatrice Eichmann-Leutenegger

Ein Dorf steckt seit Monaten im Theaterfieber: der Grossvater, der zum achten Mal mitspielt, der Dreizehnjährige, welcher es «cool» findet, die Frau mit der Diagnose Hirntumor, die Allrounderin im Zürcher Theater «Rigiblick», die als jüngste Frau Welt der Einsiedler Theatergeschichte dahinwirbelt – dazu all die mitwirkenden Kinder, die Handwerker:innen und Beleuchter, die Schneider:innen und Maskenbildnerinnen, die Ton- und Lichtdesigner, die Bühneninstallateure und die in der Administration Tätigen. Endlos könnte die Reihe fortgesetzt werden, gibt es doch kaum eine Familie in Einsiedeln, die nicht zu den 500 Mitwirkenden gehört, Ferienpläne gestrichen und seit Jahresanfang unermüdlich an den Proben teilgenommen hat. Sie alle blicken auf Fotos dem Publikum entgegen, wenn dieses sich den Tribünen nähert. Es ist ein generationenübergreifendes Gemeinschaftsunternehmen, modellhaft in einer Zeit der Vereinzelung, wie Lukas Bärfuss meint, fast eine Utopie.

Er und sein Team haben sich von diesem Geist mitreissen lassen. Doch ist es nicht selbstverständlich, dass Lukas Bärfuss, der aus den strengen freikirchlichen Strukturen des Berner Oberlandes stammt und daher eine ähnliche Prägung wie der frühere NASA-Direktor Thomas Zurbuchen aufweist, sich auf «El gran teatro del mundo» von Calderón de la Barca einlässt, eine Produktion, die auf dem überwältigenden Klosterplatz verwirklicht werden soll, kurz: auf einer katholisch-barocken Spielstätte, wie sie schweizweit einzigartig ist.


Eine neue Welttheateridee

Tatsächlich haben sich der Autor und sein Regisseur Livio Andreina, der bewährte Fachmann des Laientheaters, seit 2013 (der letzten Welttheater Aufführung von Tim Krohn als Autor und Beat Fäh als Regisseur) voller Respekt mit der Idee einer neuen Welttheater-Version befasst und 2019 den Zuschlag bekommen. 2020 wollte man starten, doch die Pandemie stoppte die bereits angelaufene Probenarbeit nicht nur im März 2020, sondern auch noch ein zweites Mal 2021. Aber Spielleute vom Schlag der Einsiedler resignieren nicht. Kurzum verschob man das Welttheater auf 2024, das Jahr des Zentenariums.

Diesmal ist es die siebzehnte Premiere innerhalb der vergangenen hundert Jahre. Immer wurde in unregelmässigen Abständen gespielt. Die «Gründungsväter» - der Bau- und Kunsthistoriker Linus Birchler, Abt Ignaz Staub, der deutsche Schauspieler Peter Erkelenz und der Postverwalter Franz Kälin – dachten 1924 primär an die christliche Erziehung des Publikums, erst in zweiter Linie an ein Theaterereignis. Nach knapp fünfzig Jahren, 1970, gab es erstmals Protestaktionen, und man erwog entscheidende Veränderungen hin zu zeitgemässeren Aussagen und Inszenierungen. Das «Theaterkollektiv Alternative» kritisierte die starre Ordnung in Calderóns geistlichem Spiel, dem «auto sacramental» von 1655, und somit die Legitimation der Hierarchien. So glitt das Welttheater finanziell und inhaltlich ab 1975 in die Krise.

Den Kindern gehört die Zukunft

Thomas Hürlimann (Autor) und Volker Hesse (Regie) kehrten sich 2000 vom «Grossen Welttheater» ab und schufen mit mehr Lokalbezügen das «Einsiedler Welttheater». Doch 2007 riefen sie mit ihrer bildkräftigen, drastischen Realisation den Widerspruch rechtskonservativer Kreise hervor, denen u. a. der Aspekt Hoffnung fehlte. Hier setzt Lukas Bärfuss einen Kontrapunkt, ohne deswegen die Düsternis auszublenden. Den Kindern gehört bei ihm die Zukunft, sie wollen das Welttheater erneut aufführen. Die traditionellen Rollenträger (Schönheit, Weisheit, König, Bauer, Bettler, Reicher) jedoch sind müde geworden, treten nur noch als Reminiszenz auf.

Im Zentrum steht nun eine Frau, Emanuela, in deren wechselvoller Biografie die früheren Rollenbilder aufscheinen: vom Kind über die begehrenswerte junge Frau, die raffgierige Diktatorin bis zur Greisin, die abtreten muss. Die Metaphysik habe ihn als Schriftsteller und Mensch immer sehr interessiert, sagt Lukas Bärfuss, der nicht explizit religiöse Inhalte vermittelt, aber mittelbar an die Sinnfragen rührt. Wie fülle ich meinen Platz auf dieser Welt aus, welche Rolle ist mir zugeteilt? Der Name Emanuela (hebräisch: Gott ist mit uns) klingt nach einer klandestinen Botschaft.


Das grosse Ganze

Es gibt keine Hauptrollen, keine Statisten, sondern «alle zusammen ergeben das Ganze» - so der Autor. Unverrückbare Mitspielerin ist die Klosterfassade; an ihrer imposanten Architektur misst sich die Inszenierung. Wie viel erträgt dieser Hintergrund an Ausgelassenheit, gar an Klamauk, wie sehr verlangt er nach Feierlichkeit? Es ist eine Gratwanderung, die Autor, Spielvolk und Publikum einschlagen. Livio Andreinas Inszenierung wirkt leicht und spielerisch (indessen hätte man das burleske Vor- und Nachspiel fallenlassen können).

Sie nimmt Elemente aus der Fasnachtstradition auf, wagt aber auch Aufmärsche nach dem Muster diktatorischer Staaten. Wir sehen dem zwanglosen Hereinstürmen der Figuren zu, aber ebenso den ernsten Abgängen der Gruppen, denen die Kostüm- und Raumgestalterin AnnaMaria Glaudemans ihre prägnante Handschrift mitgegeben hat. Grosse Ensembles kontrastieren mit intimen Duetten; immer geht es darum, den riesigen Platz sinnvoll zu bespielen und die Wechsel von Einzel- und Massenauftritten in einen stimmigen Ablauf zu bringen.

Graham Smith, der Choreograf, hat aus seiner Spielschar unerwartete Fähigkeiten herausgeholt, dabei aber eine selbstverständlich anmutende Natürlichkeit der Bewegungsmuster gewahrt. So senken sich starke Bilder ins Gedächtnis wie etwa jenes der versklavten Menschen, die reihenweise unter der Diktatur der hoch oben thronenden Königin umfallen. Oder die Arbeiter:innen auf dem Feld des Bauern, die von Plagen heimgesucht werden: Dürre, Frost, Sturm - und zuletzt kriecht ein saurierähnliches Ungeziefer daher.


Wie eine Oper

Über weite Strecken hinweg mutet die Inszenierung, die gewisse Längen aufweist, wie eine Oper an, denn Bruno Amstads Welttheaterkomposition ist nicht blosse musikalische Untermalung, sondern ein wesentliches atmosphärisches und dramatisches Element. Musikgattungen von einst bis heute werden einbezogen – vom gregorianischen Gesang über Volkslied, Jazz bis zu Hip-Hop-Beats.

Mitreissend sind die Rhythmen der Chöre und Instrumentalisten, die Spielvolk und Publikum erfassen und den Klosterplatz in Schwingung zu versetzen scheinen. Doch eine Tatsache wirft ihren Schatten, denn kaum war die Probenarbeit angelaufen, traf die Nachricht vom plötzlichen Tod Bruno Amstads am 25. Januar ein. So wird seine Musik zum Vermächtnis und kann sich markant auf einem Platz entfalten, der nach akustischen Gesetzen angelegt ist, wie Linus Birchler einst herausgefunden hat.

Gemäss Lukas Bärfuss soll das Welttheater alle Emotionen wecken. Ja, die Gefühle haben sich geregt, Werden und Vergehen haben sich als Gewissheit eingebrannt. Jeder muss einmal abtreten, «irgendwann ist Schluss».


Alle Informationen unter: welttheatereinsiedeln.ch

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