Karin Reichenbach weiss, dass ihre Kunst jenseits von «en vogue» ist. Foto: Pia Neuenschwander

«Meine Kunst braucht Zuwendung und Stille»

Karin Reichenbach schafft eigene Kunst aus historischen und kirchlichen Gegenständen

Die Thuner Lehrerin Karin Reichenbach, 58, hat sich zeitlebens für Kirchenkunst und historische Gegenstände interessiert. Sie sammelt Objekte und Schriften aus vergangenen Zeiten und schafft daraus eigene Kunstwerke, die in neuem Licht erscheinen.

Interview: Anouk Hiedl

Wie sind Sie zu Ihrer Art von Kunst gekommen?

Karin Reichenbach: Den Ursprung meines Schaffens finde ich unter anderem in unserer Familienbibel von 1707, ein mächtiges Buch, aus dem uns die Weihnachtsgeschichte vorgelesen wurde. Ich erinnere mich gut ans brüchige Papier, die kunstvollen Schriften und den staubigen Geruch beim Wenden der Seiten.

Bleibenden Eindruck hinterliessen auch uralte handgeschriebene Karten auf dem Dachboden meiner Grossmutter, Engelsdarstellungen auf goldenem Untergrund, Sammlungen von Andachtskärtchen, die herausragende Kunst alter Meister, Marienfiguren oder die Anderswelt beim Eintreten in Kirchen. Meine heutigen Arbeiten knüpfen an diese Erfahrungen tief empfundener Schönheit an.

Wie arbeiten Sie?

Ich lasse mich auf alte Gegenstände ein und gehe nach innen. Dort ist mein Zufluchtsort, mein Gotteshaus. Hier verliere ich das Zeitgefühl, oft sogar mich selbst – wenigstens für einen Moment. In diesem alchemistischen Raum verschmelze und verwandle ich meine Trouvaillen mit gedanklichen Fragmenten. Neues entsteht. Es steht für Wandlung und Auseinandersetzung – meine Art der spirituellen Suche und meine zweifelnden Fragen an die Existenz und an Gott. Kirchen und Religionen geben vor, zu wissen, was nach dem Tod kommt. Ich möchte mir frei selbst Gedanken dazu machen. Das tue ich mit meiner Kunst.

Wie suchen bzw. finden Sie Ihre Objekte?

Manchmal bekomme ich Gegenstände geschenkt. Eine ehemalige Schülerin etwa hat mir einen hölzernen Engelskopf vorbeigebracht, den sie gratis am Strassenrand gefunden hat. Anderes habe ich in Brockenstuben im In- und Ausland oder übers Internet gefunden. Durch Zeit und Zufall verbindet mich jeder Gegenstand mit dem Leben und Glauben einer mir unbekannten Person. Was hat sie wohl bewegt? Hat auch sie nach Orientierung und Sinn, nach Antworten im Dialog mit Gott gesucht?

Welche kirchlichen Gegenstände interessieren Sie?

Alle, die mich ansprechen. Klosterarbeiten, Rosenkränze oder Votivbilder, die Leiden und Dankbarkeit ausdrücken, entdecke ich heutzutage wertlos und vergessen in Brockis. Diese Objekte sprechen mich an. Interessanterweise finden sich keine Sonntagsschulkässeli und auch fast keine Darstellungen von Schuld, Scham, dem Bösen oder dem Teufel.

Welches ist Ihr speziellster Gegenstand?

Meiner Arbeit liegt das ruhige Schauen zugrunde. Viele meiner Objekte sind klein. Wer sie sehen möchte, muss in die Nähe gehen. Einige Objekte stehen für dieses Schauen nach innen und nach aussen, etwa die Sammlung alter Glasaugen, die nach dem Ersten Weltkrieg für Kriegsversehrte produziert wurden, verschiedene Vergrösserungsgläser oder eine uralte Lesebrille. Oder die Einmachgläser mit dem weissen und dem schwarzen Herzen. Glas mag ich besonders, weil es das Licht trägt. Ich arbeite auch gern mit Blattgold. Seit dem Tod meines Vaters liegt auch die Familienbibel im Schrank, wo alle meine Objekte landen. So hat alles seinen Platz.

Welches ist Ihr liebster Gegenstand?

Ich mag sie alle. Darum unterscheide ich nicht. Es gibt Objekte, die mich technisch herausfordern und um deren Form ich ringe. Mit ihnen ist es wie mit «schwierigen» Schülerinnen und Schülern – die Beziehung wird intensiver, der Horizont und das Verständnis erweitern sich. Man mag sie dann, gerade weil man so viel investiert hat.

Sind Ihre kirchlichen Gegenstände geweiht?

Ob geweiht oder nicht, ist mir egal. Von mir aus können alle Gegenstände weihen. Diese menschgemachten, von «Würdenträgern» oft eigennützig missbrauchten Hierarchien und Strukturen akzeptiere ich nicht. Ich halte das für faulen Zauber und bin aus der Kirche ausgetreten.


Wie gehen Sie vor, um für jemanden eine Skulptur anzufertigen?

Wenn jemandem gefällt, was ich mache, kann ich für diese Person etwas Persönliches anfertigen, das zu ihr passt. Dazu möchte ich vorgängig etwas von ihrem Leben und Wirken erfahren. Bisher habe ich für enge Freunde oder Familienmitglieder kleine Objekte hergestellt.

Wie reagieren die Menschen auf Ihre Kunst?

Meine Kunst konfrontiert. Sie fragt, sie braucht Zuwendung und Stille. Damit bin ich weit weg von dem, was in der Kunstwelt «en vogue» ist. Der erste, der mein Schaffen von Anfang an als Kunst gesehen und wertgeschätzt hat, ist mein Lebenspartner Antonello Messina. Ohne seine Ermutigung hätte ich wohl vor meiner eigenen Kritik resigniert und aufgehört. Nur wenigen habe ich bisher Einblick in mein Schaffen gegeben. Als häufigste Reaktionen auf meine Kunst beobachte ich verlangsamtes Schauen, Erstaunen, Faszination und Interesse.

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