«Universitäten haben in der Regel, wenn sie für Diversity einstehen, den Antisemitismus nicht im Blick», sagt Alfred Bodenheim. Foto: Annalena Müller

«Manche Leute halten ihr Jüdisch-Sein geheim»

Ein Verein unterstützt jüdische Hochschulangehörige in der Schweiz

Anfang Mai besetzten propalästinensiche Studierende diverse Schweizer Universitäten. Sie forderten von den Universitätsleitungen, nicht weiter mit israelischen Bildungsinstitutionen zusammenzuarbeiten. Nun hat sich ein Verein zum Schutz jüdischer Hochschulangehöriger gebildet. Co-Präsident ist Alfred Bodenheimer, Professor für jüdische Studien an der Universität Basel.

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Die Campusbesetzungen haben Angst ausgelöst bei jüdischen Hochschulangehörigen. Können Sie ein paar Beispiele nennen, wie die Sicherheit jüdischer Hochschulangehöriger gefährdet wurde?

Alfred Bodenheimer: Persönlich bekannt sind mir Studierende in Basel und ein Zürcher ETH-Student, die zum Teil auch in den Medien darüber gesprochen haben, dass Aufrufe zur Intifada oder Parolen wie «From the river to the sea, Palestine will be free»* in ihnen Angst ausgelöst haben. Das sind, wenn man es weiterdenkt, Aufrufe zur gewaltsamen Entfernung von Jüdinnen und Juden. Gerade wenn man solche Parolen im Kontext des Überfalls vom 7. Oktober hört, der genau diese Agitation auch bei uns ja ausgelöst hat, dann kann über den gewallttätigen Ton in diesen Aufrufen kein Zweifel herrschen.

Gab es auch Vorfälle, die Dozierende betrafen?

Eine jüdische Lehrbeauftragte der Uni Basel, die im Musikwissenschaftlichen Seminar unterrichten sollte, just als dieses besetzt wurde, wollte die Barrikaden im Notausgang des Gebäudes abbauen und wurde tätlich angegriffen. Überdies haben mir jüdische Dozierende von Universitäten in der Romandie erzählt, wie sie sich in die Ecke gedrängt fühlten. Leute, die teilweise viel Erfahrung im jüdisch-islamischen oder jüdisch-arabischen Dialog haben. Dies sind nur die Fälle von Personen, die mir persönlich bekannt sind. Von der Zürcher Hochschule der Künste etwa war kürzlich bei SRF berichtet worden, dass sich ein israelischer Student, der anonym bleiben wollte, nicht mehr wohlfühlt.

Führt dies dazu, dass Menschen ihre jüdische Identität verstecken?

Ja, man muss sich vorstellen, dass es mittlerweile eine Anzahl Leute gibt, die ihr Judentum sorgfältig geheim halten, weil sie Konsequenzen fürchten, wenn sie «auffliegen», wie soziale Ächtung oder andere Formen der Aggression und Ausgrenzung. An Schweizer Universitäten, im Jahr 2024.

Was unternimmt der Verein konkret, damit jüdische Studierende und Dozierende sich an den Hochschulen sicherer fühlen?

Bisher waren diese Fälle an ihren Unis isoliert und allein, was die Krise verschärft. Die Protestgruppen schienen eher vernetzt zu sein. Wir wollen zeigen, dass es eine schweizweite Interessengruppe für jüdische Menschen gibt, die sich an Universitäten nicht mehr willkommen und sicher fühlen.  Sie können sich an uns wenden oder wir uns an sie, wenn deutlich wird, dass Zustände herrschen, die sie unter Druck setzen. Und wir können versuchen, über verschiedene Kanäle wie Rektorate oder Fakultätsleitungen zu ihren Gunsten zu intervenieren.

Und worum geht es bei diesen Interventionen?

Es geht uns nicht primär darum, repressive Interventionen zu fördern, aber darum, dass klar wird, wo die Grenze der Zumutungen und Einschüchterungen überschritten ist. Darüber hinaus haben Universitäten in der Regel, wenn sie für Diversity einstehen, den Antisemitismus nicht im Blick. Auch das muss sich ändern.
Längerfristig kann man sich auch überlegen, wie geeignete Veranstaltungen koordiniert werden, die einen vorurteilsfreien Umgang mit dem Zionismus und Israel ermöglichen. Mit vorurteilsfrei meine ich nicht apologetisch (verteidigend, d. Red.), sondern sachlich, informiert und differenziert.

Gibt es Anzeichen, dass Schweizer Hochschulen den Boykottforderungen der Campusbesetzer:innen nachkommen?

Die Universität Genf hat im Mai einen Positionsbezug zum Gazakrieg ins Netz gestellt, der sich mit der universitären Gemeinschaft in Gaza solidarisiert und andererseits die Selbstverpflichtung enthält, Transparenz in der Zusammenarbeit mit «ausländischen» Universitäten zu schaffen und damit verbundene «ethische Kontrollen» durchzuführen. Damit sind, seltsam unausgesprochen, offensichtlich nur die israelischen Universitäten gemeint, da ja die universitäre Community in Gaza umfassender Solidarität versichert wird. Deren enge Verbandelung mit der Hamas wird ausgeblendet. Damit werden die Forderungen der Besetzer:innen faktisch zur Unipolitik erklärt.

Wie erklären Sie sich die Sympathien gerade von Studierenden für die palästinensische Bevölkerung?

Ungeachtet der Tatsache, dass natürlich an der Solidarität mit Menschen, die unter Krieg leiden, grundsätzlich nichts auszusetzen ist, muss die Fixierung gerade auf diesen Konflikt und vor allem das Schwarz-Weiss-Bild von Gut und Böse hinterfragt werden. Wir leben in einem Zeitalter unterkomplexer Wissensvermittlung, und Israel und der Zionismus sind seit jeher gut gepflegte Feindbilder, unabhängig von der Ideologie, die das antreibt. Nicht die Sympathie für die Palästinenser:innen ist das Problem, sondern dass diese faktisch mit der Unausweichlichkeit von Gewalt (Intifada) und dem Verschwinden des Staates Israel (from the river to the sea) gefüllt wird.

Der Dachverband der Schweizer Studierenden verurteilte die Aufrufe zu Gewalt und die Boykottforderungen, verteidigte aber auch das Recht auf Protest und Versammlungsfreiheit. Wie kann dieses Ihrer Meinung nach gewährleistet bleiben, ohne dass jüdische Hochschulangehörige oder andere Menschengruppen sich fürchten müssen?

Tatsächlich liegt hier eine Frage vor, die angesichts der jüngsten Entwicklungen neu ausgehandelt werden muss. Universitäten sind hochsensible Institutionen, wo einerseits der offene Austausch hochgehalten wird, andererseits ein gnadenloses Leistungsprinzip auf allen Ebenen regiert, in denen einerseits frei gesprochen werden kann, andererseits dauernd um Deutungshoheit gekämpft wird. Nach vierzig Jahren, die ich seit Beginn meines Studiums fast ununterbrochen an Universitäten verbracht habe, steht für mich persönlich der Schutz des Individuums und der respektvolle Umgang mit ihm an der Universität im Vordergrund. Protest- und Versammlungsfreiheit sind hohe Güter, aber wir müssen darauf achten, dass sie nicht ihrerseits in hegemoniale (die Vorherrschaft betreffend, d. Red.) Ansprüche ausarten. Die Besetzung von Räumen und Gebäuden enthalten beispielsweise Ansätze solcher Ansprüche.

Wie können Hochschulen einen wissenschaftlichen, kontroversen Diskurs über den Nahostkonflikt gewährleisten?

Wahrscheinlich am wirkungsvollsten niederschwellig, jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit. Wir hatten an der Theologischen Fakultät in Basel kürzlich eine Diskussionsveranstaltung, initiiert von den Studierenden und sehr klug strukturiert. Dort wurden unterschiedliche Themen besprochen, engagiert, aber immer respektvoll. Ein Austausch von Meinungen, Fragen und Argumenten ohne Anspruch, andere zu belehren. Es wird nun überlegt, dieses Format weiterzuführen.

Wer ist bislang Mitglied im Verein?

Bislang ist es noch eine relativ kleine Gruppe, bestehend vor allem aus jüdischen Dozierenden unterschiedlicher Fächer aus verschiedenen Schweizer Hochschulen - doch etliche neue Anträge zur Mitgliedschaft sind seit der Gründung bereits eingegangen, und wir rechnen damit, beträchtlich zu wachsen. Die Mitgliedschaft steht nicht nur jüdischen Menschen oder Uni-Angehörigen offen, sondern allen, denen unser Anliegen am Herzen liegt.
 

Alfred Bodenheimer (*1965) wuchs in Basel auf. Er ist seit 2003 Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte und leitet seit 2010 das Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel. Neben fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen ist er auch Autor mehrerer Kriminalromane.

*Der Slogan bedeutet «Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein». Er wurde erstmals in den 1960er Jahren von der Palästinensischen Befreiungsorganisation verwendet. Sie forderte einen palästinensischen Staat zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer, ohne Israel. Dem Staat Israel wird daher mit diesem Slogan faktisch die Existenz abgesprochen.

 

 

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