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Hat Papst Franziskus die Kontrolle verloren? (1)

Teil 1 der Serie «Der Aussenblick»: Liberale Katholik:innen in Deutschland und der Schweiz fordern Rom heraus

Aus den Regionen, wo die Reformation im 16. Jahrhundert ihren Ursprung nahm, kommt neues Ungemach. Der «Synodale Weg» fordert Rom heraus und bringt die Kirche an den Rand des Schismas. Auch in der Schweiz breitet sich die «liberale Revolution» aus.

Das Newsportal POLITICO hat eine umfassende Recherche über das Hadern liberaler Katholik:innen in Deutschland und der Schweiz mit Papst Franziskus veröffentlicht (englischsprachiger Originaltext). Der Aussenblick ist spannend, denn er ist aus der Perspektive des eher konservativen amerikanischen Katholizismus verfasst.

Eine zentrale These für den deutsch-schweizerischen Liberalismus: Die hiesige katholische Mentalität ist durch einen kulturellen Protestantismus geprägt. Auch Bischof Felix Gmür kommt zu Wort.

Das «pfarrblatt» veröffentlicht den Text in drei Teilen in deutscher Übersetzung.
Teil 1: Ein liberales Schisma made in Germany?
Teil 2: Die liberale Revolution erreicht Solothurn
Teil 3: Die Geister, die er rief, sind Kulturprotestanten

Teil 1 der Serie «Der Aussenblick»: Ein liberales Schisma made in Germany?

Ben Munster, POLITICO
(Übersetzung: Annalena Müller)

Die Ereignisse, welche die katholische Kirche an den Rand einer Spaltung brachten, nahmen kurz nach Mittag Fahrt auf. An einem kalten Novembernachmittag versammelten sich in einem Berliner Nobelhotel mehrere hundert katholische Politiker:innen, Theolog:innen und Industrievertretende, um ihrem grossen Reformvorhaben den letzten Schliff zu geben. Das Ziel: Lai:innen sollten künftig Bischöfe – und damit auch den Papst – überstimmen können.

Aufstand in Berlin

Während der mehrstündigen Versammlung echauffierten sich die Delegierten darüber, dass Papst Franziskus die deutsche Kirche bei zentralen Themen wie klerikalem Missbrauch, der gleichgeschechtlichen Ehe und den Trans-Rechte im Stich gelassen habe – Themen, bei denen die deutschen Gläubigen vehement Fortschritte forderten.

«Die Wissenschaft hat bewiesen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt – und der Papst lehnt das ab», wetterte der Theologe Andreas Lob-Hüdepohl. «Niemand weiss, wohin der Papst geht, er ändert ständig seine Meinung. Es gibt keinen roten Faden in seinem Tun, keine Logik.»

Seit Beginn seines Pontifikats ist Franziskus Angriffen von Konservativen ausgesetzt. Diese fürchten, der Papst könnte in Fragen wie Homosexualität, Abtreibung und Kapitalismus zu weit gehen. Doch die in Berlin Versammelten beklagten sich genau über das Gegenteil, nämlich dass der Papst nicht liberal genug sei.

Zu wenig, zu spät

«Franziskus wurde gewählt, um die katholische Kirche zu erneuern», sagt Thomas Söding, der stellvertretende Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), der Gruppe, die im November in die deutsche Hauptstadt geladen hatte. Aber das Versagen des Papstes, einen bedeutenden Wandel herbeizuführen, habe die Kirche archaisch und unflexibel gemacht, sagt Söding. Dies zwinge die Deutschen, ihren eigenen Weg zu gehen.


Nun wäre es falsch zu behaupten, dass Franziskus seinem Ruf als liberalem Revolutionär nicht gerecht geworden ist. In den letzten zehn Jahren hat er die kirchliche Hierarchie durch seine Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Themen wie Sexualität, Wirtschaft, Einwanderung und Klimawandel stark aufgewühlt. Und Franziskus hat darüber hinaus einige echte Reformen angestossen, darunter die Öffnung hochrangiger Ämter im Vatikan für Frauen. Auch ist er für seine tolerante Philosophie bekannt, in der jeder nach seiner Fasson leben kann. Er hat sogar erklärt, dass der Himmel auch Atheisten offenstehe. Auf die Frage nach homosexuellen Priestern während eines Gesprächs mit Reportern im päpstlichen Flugzeug antwortete der Pontifex: «Wer bin ich, um darüber zu urteilen?»

Papst der Demut

Seine liberalen öffentlichen Äusserungen waren stets begleitet von dem Bemühen, Heiligkeit und Demut zu vermitteln. Franziskus entschied sich früh, im beengten Gästehaus Santa Marta im Vatikan zu wohnen, anstatt in der opulenten Residenz früherer Päpste. Er tauschte das kugelsichere Papamobil gegen einen marineblauen Ford Focus aus. Mit seiner Papstwahl soll er so wenig gerechnet haben, dass er bereits ein Rückflugticket nach Buenos Aires vom Konklave hatte.

Während konservative Katholik:innen in den USA, in Afrika und im Vatikan besonders anfänglich den populistischen Ansatz des Papstes missbilligten, sind diese Angriffe mittlerweile verklungen. Heute wird seine Autorität von denjenigen untergraben, die sich darüber beschweren, dass seine liberalen Reformen halbherzig waren und zu keinem theologischen Wandel geführt haben, noch dazu überschattet von Skandalen.

So wurde letztes Jahr eine Erklärung, die Segnungen für gleichgeschlechtliche Paare erlaubt, nach einem Sturm der Entrüstung verwässert. Ende Mai kamen ausserdem Fragen zu Franziskus Gesinnung auf, nachdem Medien von einer homophoben Bemerkung des Papstes hinter verschlossenen Türen berichtet hatten.

Synode als Revolution von unten

In ihrer Verzweiflung über den Reformstau haben progressive Katholik:innen in Deutschland und der Schweiz die Synoden-Idee des Papst aufgegriffen, welche der Kirche ein Mindestmass an konsultativer Demokratie verleihen soll. Besonders in Deutschland und Teilen der Schweiz wird der Synodale Prozess genutzt, um Befugnisse an Lai:innen zu erteilen, die eigentlich Geistlichen vorbehalten sind, mit dem Ziel, ihre Ortskirchen in eine Richtung zu lenken, die ihnen besser gefällt. Viele wollen den Synodalen Prozess sogar dazu nutzen, das Kirchenrecht zu ändern.

«Neunzig Prozent der Menschen, die aus der Kirche austreten, sagen, dass sie wütend sind über sexuellen Missbrauch, klerikale Korruption, dass sie wütend sind über die Führung», sagt ZdK-Vize Söding. «Es gibt diese Vorstellung von heiligen Männern, die von Gott auserwählt sind, um die Kirche zu führen. Aber die grosse Mehrheit der Gläubigen ist nicht davon überzeugt, dass dies der richtige Weg ist.»

«Teutonische Unruhen» erschüttern Kirche

Im Laufe des vergangenen Jahres hat die «deutsche Herausforderung» die katholische Kirche erschüttert. Es gab düstere Warnungen vor einem Schisma und Forderungen nach einem konservativen Durchgreifen wurden laut. Auch ist nicht unbemerkt geblieben, dass die Bedrohung der römischen Autorität genau in den Regionen ausgebrochen ist, wo die Reformation im 16. Jahrhundert ihren Lauf genommen hatte. So bezeichnete ein prominenter Erzbischof die Ereignisse in der deutschen Kirche als «die grösste Krise seit der Reformation». Und obwohl der Aufstand in letzter Zeit leiser wurde, gibt es keine Anzeichen dafür, dass er endet.

Einige Revolutionen sind voller Feuer, Wut und Rechtschaffenheit. Die liberale Revolte gegen Papst Franziskus kommt in einem deutschen Gewandt daher – sie erscheint als eine vorsichtige, schrittweise Verwaltungsreform.

Die teutonischen Unruhen begannen 2018 nach der Veröffentlichung der MHG-Studie zu klerikalem Missbrauch. Die Studie wurde vom Klerus des Landes in Auftrag gegeben, um den massenhaften Kirchenaustritten entgegenzutreten. Der Abschlussbericht empfahl, den Zölibat zu überdenken, mehr Toleranz gegenüber LGBTQ+ Menschen zu zeigen und den katholischen Lai:innen Mitspracherecht bei der Ernennung von Bischöfen einzuräumen.


Geld ist Macht

An den meisten Orten hätten solche Vorschläge schlicht ignoriert werden können. In Deutschland war das nicht möglich. Die Kirche im deutschsprachigen Europa ist einzigartig: Sie wird durch Steuern ihrer Mitglieder finanziert. Entsprechend ist sie gezwungen, auf die öffentliche Meinung zu reagieren. Im Jahr 2018 führte diese besondere Situation dazu, dass die deutschen Bischöfe unter Druck kamen, weitreichende Reformen zu verabschieden – obschon viele von ihnen gegen das Kirchenrecht verstiessen.

Ironischerweise nutzten die deutschen Katholik:innen ein Instrument, um den Vatikan herauszufordern, das Franziskus selbst kreiert hatte. Im Laufe seines Pontifikats hat der Papst nämlich mehrere grosse, kirchenweite Konsultationsforen, sogenannte Synoden, ins Leben gerufen. Diese beziehen auch Lai:innen ein.

Während die Parteigänger des Papstes gebetsmühlenartig daran erinnern, dass es bei Synoden nur ums «Zuhören» gehe, sahen viele im deutschen Klerus in den Synoden einen Weg zu einer direkten demokratischen Reform. Der Reformklerus fand im Zentralkomitee deutscher Katholik:innen einen willigen Partner. Das ZdK vertritt die deutsche katholische Elite und neigt dem politischen Mainstream zu. Das ZdK ergriff daher gerne die Gelegenheit, die Bischöfe in die Moderne zu ziehen.

Der Synodale Weg zu Gewaltenteilung

So wurde der «Synodale Weg» geboren. In einer Reihe gemeinsamer Versammlungen arbeitete man zügig daran, die Empfehlungen der MHG-Studie in die Praxis umzusetzen, auch wenn es einigen Bischöfen mulmig wurde. Wo die kirchliche Lehre unverrückbar war, blieben die bischöflichen Reformvorschläge rhetorisch. In anderen Punkten widersetzten sie sich ausdrücklich den Vorgaben des Vatikans - und genehmigten zum Beispiel die Segnung homosexueller Paare im Jahr 2023.

Die direkte Konfrontation mit Rom kam, als der Synodale Ausschuss durchsetzte, das Stimmrecht der Bischöfe zu schwächen, sodass sie von einer einfachen Mehrheit überstimmt werden können. Der Ausschuss ignorierte den Aufschrei aus Rom und drängte darauf, diese Regelung mit der Schaffung eines «Synodalen Rats» dauerhaft zu machen.

Genau das war das Ziel des eingangs erwähnten Treffens im Berliner Nobelhotel: die Abstimmung über die Reform und die Institutionalisierung der Kirchendemokratie in Deutschland. Von den Bischöfen wurde erwartet, dass sie das Ergebnis dann im Februar absegnen würden.

Die Stimmung im Hotel erinnerte an einen Parteitag. Es wurde über Israel geredet und über den Papst. Wobei die Beschwerden über den Pontifex von klerikalem Missbrauch bis hin zu den Kleinigkeiten der Tagespolitik reichten. Zu den besonders leidenschaftlichen Redner:innen in Berlin gehörte Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie – nicht gerade eine Autorität in Sachen Theologie.


Rom interveniert

Naturgemäss alarmieren solche Szenen den Heiligen Stuhl. Franziskus und seine Verbündeten kamen zum Schluss, dass der Synodale Weg ein Versuch war, das Kirchenrecht von Grund auf zu ändern. Bereits im Jahr zuvor hatte ein Spitzendiplomat des Papstes die Deutschen gewarnt, dass ihre Initiative eine «Gefahr für die Einheit der Kirche» darstelle.

Franziskus selbst schaltete sich erst im November ein. Der Papst forderte die deutschen Katholik:innen auf, «das ‹Heil› nicht mehr in immer neuen Gremien zu suchen», sondern «sich zu öffnen und hinauszugehen, um unseren Brüdern und Schwestern zu begegnen, vor allem denen, die ... an den Schwellen unserer Kirchentüren, auf den Strassen, in den Gefängnissen, in den Krankenhäusern, auf den Plätzen und in den Städten sind.»

Die Vertreter:innen des Synodalen Wegs wiesen die römische Kritik zurück, spielten ihre Ziele nach aussen herunter und sprachen intern von einem demokratischen Wandel. Der Ausschuss verabschiedete das Überstimmungsrecht der Laien mit einem klaren Ja – praktisch ohne Gegenstimmen.

Der Aufstand gegen die römische Autorität beschränkt sich nicht auf liberale Kreise in Berlin. Anfang dieses Jahres haben die belgischen Bischöfe ein «Synodales Manifest» vorgestellt, in dem sie viele der gleichen Reformen fordern, wie die Deutschen. Allerdings versprechen die Belgier, nur mit Zustimmung des Vatikans vorzugehen. Aber die Entwicklung zeigt, wie sehr sich die öffentliche Empörung ausbreitet. Ein noch extremeres Beispiel als Deutschland ist die Schweiz, wo Lai:innen traditionell Macht über die Kirchenfinanzen haben.


Lesen Sie in Teil 2: Die liberale Revolution erreicht Solothurn
Lesen Sie in Teil 3: Die Geister, die er rief, sind Kulturprotestanten

POLITICO

Ist ein amerikanisches Onlinemagazin und gehört zu den wichtigsten Medien im Washingtoner Politikbetrieb. Die Journalist:innen rekrutieren sich vor allem aus dem Umfeld der US-amerikanischen Leitmedien Washington Post und Financial Times. Politisch wird das Magazin der amerikanischen Mitte zugeordnet.

Seit 2015 exisitiert POLITICO EUROPE mit Sitz in Brüssel und Büros in Berlin, London und Paris. Chefredakteur ist seit 2021 der ehemalige Leiter der Financial Times Asia, Jamil Anderlini.

Kirchenberichterstattung von POLITICO und POLITICO EUROPE sind säkular und am ehesten vergleichbar mit der NZZ oder FAZ. Die Perspektive POLITICO ist eine dezidiert amerikanische, die in Sachen Katholizismus und Kirchenreform traditioneller ist als im deutschsprachigen Raum. Der hier wiedergegeben Artikel ist daher als «Aussenblick» zu verstehen. (am)

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