«Ich prangere nicht die Macht an sich, sondern deren Missbrauch an.» Jaqueline Keune. Foto: Roberto Conciatori

«Es gibt nur diese eine Welt»

Meditationstexte zum Hungertuch von Jacqueline Keune

Ein neues Hungertuch begleitet zahlreiche Pfarreien durch die Fastenzeit. Die Luzerner Theologin Jacqueline Keune hat dazu im Auftrag des Hilfswerks Fastenaktion Meditationstexte verfasst.

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Was sehen Sie auf dem neuen Hungertuch?

Jacqueline Keune: Ich sehe eine Erde, die fällt, und eine Gegenbewegung, die versucht, diesen Fall zu verlangsamen oder aufzuhalten. Das Bild macht auf mich den Eindruck eines Flickenteppichs, in den roten und gelben Flecken sehe ich Blut und Feuer. Die Buchstaben wirken wie Dauergerede, ein Kommentieren und Analysieren, um das komplexe Ganze zu begreifen.

Das Originalbild ist auf Zeitungen gemalt, einzelne Titelworte wie «Vom Anfang» oder «Der Mensch» schimmern noch durch. War dieser Entstehungsprozess für Sie wichtig?

Ja, das hat mir einen Zugang zu dem Bild verschafft. Auf den ersten Blick erscheint es als sehr einfache Darstellung für eine hoch komplexe Wirklichkeit. Auf den zweiten Blick sehe ich, dass es sich aus Hunderten kleiner Zeitungsfetzen zusammensetzt. Diese benennen grausame, banale oder hoffnungsvolle Realitäten dieser Welt. Für dieses Bild wurde zusammengeklebt, ausgebessert, übermalt. Genauso erlebe ich die Welt. Diese Entsprechung von innen und aussen gefällt mir sehr an dem Bild.

«Was ist uns heilig?» lautet der Titel des Tuchs. Wie verstehen Sie diese Frage?

Was macht uns Staunen, was verschlägt uns die Sprache? Was löst Gefühle von Ehrfurcht aus? Was tasten wir nicht an? Was machen wir um keinen Preis zu Geld?

Wie lautet Ihre Antwort darauf?

Manchmal werde ich von etwas so ergriffen, dass ich das Gefühl bekomme, ich erlebe gerade etwas von der Macht des Heiligen. Die letzten Stunden im Leben meiner Freundin Rita. Das war für mich eine Begegnung mit dem Heiligen. Auch im ersten Kuss von Markus, meinem heutigen Mann, habe ich etwas von der Nähe des Himmels gespürt, oder wenn ich tief im Wald unterwegs bin.

Sie prangern mehrmals «die Mächtigen» an. Wer ist das in Ihren Augen?

Mit den Mächtigen meine ich jene Männer, die an den Schalthebeln der politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Macht sitzen, die Entscheidungen fällen, die Millionen von Menschen betreffen. Ich prangere nicht die Macht an sich, sondern deren Missbrauch an. Der Machtmissbrauch ist konkret. Seine Namen heissen für mich u. a. Wladimir Putin, Xi Jinping, Baschar al-Assad, Alexander Lukaschenko, Donald Trump, Jair Bolsonaro, Recep Tayyip Erdoğan.

«In unserer Hand liegt es», lautet die letzte Zeile des letzten Textes. Welche Möglichkeiten haben Sie, haben die Gläubigen in den Pfarreien, damit «die Blätter der Bäume aufatmen»?

Ich bin oft nahe daran, die Hoffnung komplett zu verlieren, wenn ich in die Welt schaue. Darum ist es wichtig, mir selber immer wieder zu sagen: Wir sind nicht ohnmächtig, wir sind teilmächtig. Nicht nur politische Weichenstellungen oder grosse Aktionen sind von Bedeutung, sondern jeder Schritt zählt.

Wie sehen solche Schritte aus?

Für mich ist es wichtig, mich ausschliesslich mit dem ÖV oder aus eigener Muskelkraft zu bewegen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich kein Flugzeug brauche, um in unbekannte Welten einzutauchen. Beim Einkaufen leiten mich zwei Fragen: «Brauche ich das wirklich?» und «Habe ich genug Zeit für das, was ich kaufe?». Ein deutscher Ökonom sagte einmal, wir sollten nur so viel konsumieren, wie wir auch Zeit haben, den Dingen unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Sonst werde das Gekaufte zum Ballast. Das empfinde ich genauso. Darum frage ich mich in jedem Buchladen: Habe ich wirklich die Zeit, dieses Buch zu lesen?

Können solche kleinen Schritte etwas verändern?

Wenn wir konsequenter und solidarischer wären, wenn wir wirklich Ernst machen würden mit dem, was wir als richtig oder falsch erkennen, dann hätten wir ungeheure politische Macht, als Einzelne und miteinander. Darum habe ich Mühe mit Fürbitten, die Gott darum bitten, er solle den Hunger wegmachen. Es ist unsere Aufgabe, für Gerechtigkeit zu sorgen. Darum bin ich dankbar, dass wir durch die Fastenkampagne immer wieder an diese Verantwortung erinnert werden.

«Für welche Welt wollen wir verantwortlich sein?» lautet das Motto der diesjährigen Fastenkampagne. Wie lautet Ihre Antwort auf diese Frage?

Es gibt nur diese Welt. Ich habe eine kleine Mitverantwortung für diese Welt, in der Hunderttausende Menschen im Südsudan oder in Somalia Hunger leiden. In der über dem indischen Kontinent Vögel tot vom Himmel fallen, weil die Temperaturen auf 50 Grad ansteigen. Das ist aber auch die Welt, in der sich junge Menschen an kerngesunde Bäume ketten, weil sie verhindern wollen, dass ein Grosskonzern sie fällt, um den Kohleabbau auszuweiten. Es gibt nur diese eine konkrete Welt.

Erstpublikation im Kantonalen Pfarreiblatt Luzern
 

Von Zeitungsausschnitten zum Hungertuch

Das Hungertuch 2023 trägt den Titel «Was ist uns heilig?». Geschaffen wurde es von Emeka Udemba (*1968). Der nigerianische Künstler lebt und arbeitet in Freiburg (D). Am Anfang seines Hungertuchs stand eine Zeitungscollage: Nachrichten, Infos, Fakten, Fakes – Schicht um Schicht riss und klebte der Künstler diese Fragmente, übermalte sie und komponiert aus ihnen etwas Neues.
Meditationen von Jacqueline Keune zum Hungertuch

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