Adrian Vatter ist Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern. Foto: zVg

Adrian Vatter: «Der Ständerat ist eine Bastion des Katholizismus»

75 Prozent der Schweizer Parlamentsabgeordneten gehören einer Kirche an

Das Parlament ist die grösste Kirche der Schweiz. 75 Prozent der Abgeordneten gehören einer Kirche an. Einfluss auf das Stimmverhalten habe die Konfessionszugehörigkeit kaum, sagt Politikwissenschaftler Adrian Vatter.

Sylvia Stam

«pfarrblatt»: In der Bevölkerung sind knapp 53 Prozent Kirchenmitglieder, im Parlament sind es 75 Prozent. Macht die Säkularisierung vor dem Parlament halt?

Adrian Vatter*: Nein, aber der Prozess verläuft auf der Eliten-Ebene langsamer. Im Vergleich zur letzten Untersuchung von 2017 erkennt man auch im Parlament einen Trend zu mehr Konfessionslosen.
 

Der hohe Prozentsatz an Kirchenmitgliedern ist Ausdruck einer Verbundenheit mit der Gemeinschaft


Der hohe Prozentsatz an Kirchenmitgliedern unter den Parlamentarier:innen ist auch Ausdruck einer grösseren Verbundenheit mit der Gemeinschaft: Man setzt sich für die Gesellschaft ein, sei dies nun politisch oder zivilgesellschaftlich bei der Kirche. Auch die Kirchen sind karitativ sehr engagiert.

Inwiefern ist das Parlament eine Elite?

Vatter: Das Parlament ist kein Mikrokosmos der Bevölkerung, sondern dessen Mitglieder gehören einer gesellschaftlichen Elite an. Elite definiert sich dabei zunächst über Bildung, Einkommen und sozialen Status. Teil der Elite zu sein, bedeutet aber auch, bestimmte soziale Erwartungen zu erfüllen, einschliesslich der regelmässigen Teilnahme an Gottesdiensten.

Ihre These legt den Schluss nahe, Religion sei Sache einer Elite. Stimmt das wirklich?

Vatter: Dies insofern, als gerade die katholische Kirche stark hierarchisch aufgebaut und dadurch elitegeprägt ist.

Die Kirchenmitglieder bilden zusammen eine absolute Mehrheit im Parlament. Zeigt sich dies in den parlamentarischen Diskussionen?

Vatter: Nur sekundär. Einerseits sind viele Parlamentarier:innen nur formal Mitglied einer Kirche, identifizieren sich aber nicht mehr mit ihr. Ausserdem werden viele Themen, die die Religion betreffen, auf kantonaler Ebene geregelt. Das nationale Parlament hat hier nicht so viel zu entscheiden. Allerdings gibt es durchaus «moralpolitische» Themen wie Sterbehilfe, Abtreibung, Organspende, Konzernverantwortung, in die konfessionelle Werthaltungen indirekt einfliessen können. Für die meisten Parlamentarier:innen steht jedoch die Haltung der Partei im Vordergrund und nicht die Religionszugehörigkeit.


Die Parteidisziplin ist also grösser als die individuelle religiöse Werthaltung?

Vatter: Ja. Wir stellen fest, dass die Fraktionsdisziplin in den letzten 20 Jahren stark zugenommen hat, insbesondere bei Parteien, die früher den individuellen Handlungsspielraum weiter offen liessen wie etwa die CVP oder die EVP – also genau jene Parteien, bei denen die individuelle Wertvorstellung aufgrund der Konfession einen wichtigen Einfluss hatte. Bei parlamentarischen Entscheidungen folgen heute die Parlamentarier:innen in 98 Prozent der Abstimmungen ihren Fraktionsvorgaben.

Dürfen sie nicht von der Parteilinie abweichen oder wollen sie es nicht?

Vatter: Der oder die Fraktionsschef:in kann vorgeben, dass Parteimitglieder bei einem strategisch wichtigen Geschäft nicht von der Parteilinie abweichen dürfen.  Bei weniger wichtigen Geschäften haben sie mehr Handlungsspielraum.
 

Ein Freisinniger, gleich ob evangelisch oder katholisch, folgt der liberalen Position der eigenen Partei.


Bei der Sterbehilfe hat die Schweiz eine sehr liberale Gesetzgebung, obschon die katholische Kirche hier eine restriktive Haltung einnimmt und Sterbehilfe ablehnt.

Vatter: Das ist Ausdruck der generell liberalen Gesetzgebung, die wir in der Schweiz haben. Hier schlägt das freisinnig-liberale Erbe der Bundesstaatsgründer durch. Ein Freisinniger, auch wenn er evangelisch oder katholisch ist, folgt eher der liberalen Position der eigenen Partei.

Es fällt auf, dass viele Mitglieder bürgerlicher Parteien Kirchenmitglieder sind. Gibt es einen Zusammenhang zwischen bürgerlicher Politik und Religion?

Vatter: Das ist Ausdruck davon, dass Bürgerlich-Konservative grundsätzlich eher an der Kirche als einer jahrhundertealten Autorität festhalten. Umgekehrt gibt es bei der SP und den Grünen mehr Konfessionslose. Das entspricht der linken Haltung, sich für die individuelle Emanzipation und Neuerungen einzusetzen und sich darum eher von der Kirche zu entfernen.

Das erstaunt, weil sich die Kirche im Auftrag von Jesus Christus für die Schwachen einsetzen sollte, ein klassisches Thema der SP, oder für die Bewahrung der Schöpfung, ein klassisch grünes Thema.

Vatter: Bei der Parteigründung der Grünen waren solch konservative Elemente wie Achtung vor der Schöpfung noch Thema. Im Verlauf der Jahre hat sich das deutlich verändert hin zu einer rot-grünen Politik, die sich von hierarchisch geprägten Organisationen wie der katholischen Kirche distanzieren möchte.

In der SVP haben die Katholik:innen zugelegt. Ist die Säkularisierung auf dem Land angekommen? Statt der CVP wählt man eine Partei, die unabhängig von der Konfession den eigenen Interessen mehr entspricht?

Vatter: Ja, die SVP hat sich von einer Bauern- und Kleingewerblerpartei in den reformierten Mittellandkantonen hin zu einer gesamtschweizerischen Volkspartei gewandelt. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist es der SVP in den 90er Jahren gelungen, in die ursprünglich CVP-dominierten Lande der Inner- und Ostschweiz vorzudringen. Sie ist heute breit in der Bevölkerung verankert.
 

Konfessionslose im Parlament bilden in spätestens 20 Jahren eine Mehrheit


Der Anteil Konfessionsloser im Ständerat ist gegenüber der letzten Erhebung von 2017 unverändert bei 14 Prozent. Woran liegt das?

Vatter: Im Ständerat haben wir eine Bastion des Katholizismus. Der Ständerat wurde ja 1848 eingeführt, um die katholischen Verlierer:innen des Sonderbundkrieges zu schützen. Ich finde es bemerkenswert, dass das Stöckli diese Funktion offenbar immer noch innehat. Hier zeigt die Trägheit dieser Institution: Wenn man einmal eine Regel verabschiedet hat, wirkt das noch fast 200 Jahre später nach.

Bis wann werden die Konfessionslosen auch im Parlament eine Mehrheit bilden?

Vatter: Wenn der Trend so weitergeht, in spätestens 20 Jahren. Wenn man sieht, wie rasch das in der Bevölkerung geschah, könnte es auch früher sein.

Empfinden Sie den Rückgang der Kirchenmitglieder als einen Verlust für die Gesellschaft?

Vatter: Wenn ein reiner Rückzug ins Private die Folge ist und Menschen sich nicht mehr für die Gesellschaft oder für andere engagieren, dann ist es ein Verlust. Hier nimmt die Kirche eine sehr wichtige Funktion wahr. Wenn dieses Engagement kompensiert werden kann durch andere zivilgesellschaftliche Organisationen wie NGO’s, dann ist es weniger schlimm.

Welcher Konfession gehören Sie selbst an?

Vatter: Mein Grossvater war Pfarrer in Kirchberg und meine Grossmutter eine sehr engagierte Pfarrersfrau. Ich bin selbst noch Mitglied der reformierten Kirche, aber nicht in irgendeiner Form engagiert.

Weshalb sind Sie noch Mitglied?

Vatter: Diese Frage stelle ich mir tatsächlich immer wieder. Ich bringe es nicht übers Herz auszutreten. Als meine Eltern gestorben sind, empfand ich die kirchliche Bestattung als sehr schönen und würdigen Rahmen. Hier leistet die Kirche wirklich sinnvolle Arbeit. Auch die Unterstützung durch die Pfarrerin habe ich sehr positiv erlebt. Aber wenn man all die negativen Schlagzeilen etwa im Bereich Missbrauch liest, ist man schon versucht, auszutreten.

*Adrian Vatter ist Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern. Zusammen mit seinem Team arbeitet er an einer Neuauflage des Buchs «Das politische System der Schweiz» (Nomos Verlag). In diesem Zusammenhang wurde die Religionszugehörigkeit der eidgenössischen Parlamentarier:innen erhoben.

Prozentuale Religionszugehörigkeit in der Schweizer Bevölkerung und im Bundesparlament
(Quelle: Bundesamt für Statistik und Uni Bern)

Gesamtbevölkerung:
Konfessionslos: 33,5
Römisch-katholisch: 32,1
Evangelisch-reformiert: 20,5

Nationalrat:
Konfessionslos: 24,9
Römisch-katholisch: 36,5
Evangelisch-reformiert: 34, 4

Ständerat:
Konfessionslos: 14,0
Römisch-katholisch: 55,8
Evangelisch-reformiert: 20,9

Bundesversammlung
Konfessionslos: 22,8
Römisch-katholisch: 40,1
Evangelisch-reformiert: 31,9

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